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Am 25. November findet jährlich der Internationale Tag gegen Gewalt gegen FLINTA* statt. Ein wichtiger Anlass, um auf die allgegenwärtige Gewalt gegenüber FLINTA* aufmerksam zu machen. 2024 zeigen Statistiken, dass Gewalt gegen Frauen (Quelle betrachtet ausschließlich cis-Frauen) nach wie vor eine alarmierende Realität darstellt.

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Alle drei Tage wird ein Femizid begangen – Tendenz steigend. Übersetzt heißt das: alle drei Tage wird eine cis-Frau durch einen cis-Mann (meist Partner oder Ex-Partner) getötet, weil sie eine Frau ist. Sexualstraftaten haben im vergangenen Jahr um 6,2% zugenommen, häusliche Gewalt+5,6%, Menschenhandel (+6,9%) und digitale Gewallt (+25%). (tagesschau.de) Die Dunkelziffer muss immer dazu gedacht werden. Schauen wir auf die Frauen, die bei BELLA DONNA in der Beratung ankommen und Gewalt erleben, zeigen die wenigsten die Täter an. Zu vermuten ist, dass dies auf die Gesamtbevölkerung übertragbar ist. Wichtig hierbei: Die Menschen, die Gewalt, in welcher Form auch immer, erleben, sind und bleiben Opfer. Auch, wenn sie die Gewalt nicht anzeigen. Wenn FLINTA* sich dagegen entscheiden, die erlebte Gewalt anzuzeigen, darf ihnen kein Vorwurf gemacht werden.

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Es lässt sich feststellen, dass patriarchale Strukturen, in denen wir leben, auch dazu führen, dass eigentlich neutrale Instanzen von patriarchalen Einflüssen geprägt sind. Wie die kürzlich erschienene Studie „Macht und Kontrolle in familienrechtlichen Verfahren“ herausarbeitete.

Das Ergebnis der Studie ist, dass von Gewalt betroffene Frauen mit Kindern in familiengerichtlichen Verfahren systematisch Täter-Opfer Umkehr widerfahren und wenig Chancen haben das Verfahren „zu gewinnen“. Frauen wird in familienrechtlichen Verfahren unterstellt, sie würden aus egoistischen und emotionalen Gründen Gewalt des Partners gegen sich und/oder gegen die gemeinsamen Kinder erfinden, um das alleinige Sorgerecht zu erlangen. Wenn dieses Narrativ bedient wird, haben die Frauen und ihre Kinder, laut Studie, kaum eine Chance „dieser Deutungsschablone zu entkommen“. (www.taz.de)

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FLINTA* mit Substanzkonsumstörungen sind besonders gefährdet, Opfer von Gewalt zu werden, sowie von der Gesellschaft stigmatisiert zu werden. Untersuchungen zeigen, dass Abhängigkeitserkrankungen oft mit sozialer Isolation, Abhängigkeit von Tätern, sowie Stigmatisierung einhergehen. Die Stigmatisierung ist dabei häufig zutiefst internalisiert. Täter nutzen vulnerable Lebensumstände aus, um FLINTA* an sich zu binden. Gewalt wird hier als „Mittel“ zur Machtdemonstration und Kontrolle genutzt. Es fehlt in Deutschland an (kostenfreien) Frauenhausplätzen, an genderspezifischen Angeboten, die einen Schutzraum bieten, sowie an einem politischen Willen, diese Umstände zu ändern. Selbst heute, im Jahr 2024, sprechen sich cis-Männer in der Politik gegen die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen aus. My Body my choice. But only for cis-male bodies?…

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Der gesellschaftliche Rechtsruck und damit einhergehender, zunehmender Antifeminismus verschärfen das Problem. Antifeministische Bewegungen delegitimieren feministische Anliegen und fördern Geschlechterstereotype, die Gewalt gegen FLINTA* normalisieren. Rechtspopulistische Parteien stellen häufig Maßnahmen wie Frauenhäuser und Gewaltschutz in Frage, was die Umsetzung internationaler Vereinbarungen wie der Istanbul-Konvention behindert. Gleichzeitig versuchen sie, den Diskurs auf Migration zu fokussieren und Gewalt primär als „importiertes Problem“ darzustellen, was von der strukturellen Gewalt ablenkt, die tief in der Gesellschaft verankert ist.

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Der Rechtsruck in Deutschland kann zudem erhebliche Auswirkungen auf das Suchthilfesystem, im Besonderen auf gendersensible Ansätze, haben. Mit einer potenziellen Verlagerung politischer Prioritäten, weg von inklusiven und diversitätsorientierten Ansätzen, können Finanzierung und Unterstützung für (gendersensible) Programme zurückgehen. Dies würde die Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Unterschiede bei Prävention, Beratung und Therapie erschweren. Zudem könnten diskriminierende Narrative und Stigmatisierung marginalisierter Gruppen, wie FLINTA*, LGBTQ+-Personen oder Migrant*innen, zunehmen, was die Zugangsmöglichkeiten zu spezifizierter Hilfe weiter einschränkt. Dies gefährdet die Qualität und Wirksamkeit der Suchthilfe und riskiert eine Verschärfung der sozialen Ungleichheiten. Kurzum: Schutzräume und gendersensible Angebote haben aus rechter, antifeministischer Brille keine Legitimation.

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Gewalt gegen FLINTA* bleibt ein drängendes gesellschaftliches Problem, das durch komplexe Wechselwirkungen verstärkt wird. Um Fortschritte zu erzielen, bedarf es umfangreicher Investitionen in Prävention, Schutzräume und geschlechtsspezifische Unterstützungsangebote. Gleichzeitig müssen feministische Perspektiven und die Rechte von FLINTA* gegen antifeministische Angriffe verteidigt werden, um die Vision einer gewaltfreien, gleichberechtigten Gesellschaft zu verwirklichen.

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Hinweis: Im Beitrag wird bewusst zwischen der Bezeichnung FLINTA* und dem Begriff Frauen gewechselt. Da die verwendeten Quellen von Frauen sprechen, ohne klarzustellen, ob alle Frauen gemeint sind, wird diese Formulierung übernommen. Um jedoch Sichtbarkeit für alle zu schaffen, wird im weiteren Verlauf des Textes der Begriff FLINTA* verwendet.

Mangelnde Berücksichtigung traumatisierter Frauen im Suchthilfesystem

Anlässlich des Internationalen Tages gegen patriarchale Gewalt am 25.11. macht die Hamburgische Landesstelle für Suchtfragen (HLS e.V.) gemeinsam mit Frauenperspektiven e.V. auf die mangelnde Berücksichtigung traumatisierter Frauen im Suchthilfesystem aufmerksam.
Jeden Tag versucht in Deutschland ein Mann, seine (Ex-)Partnerin zu töten, jeden dritten Tag gelingt es ihm. Doch die Tötungsdelikte sind dabei nur die Spitze des Eisbergs. 240.547 Menschen waren im Jahr 2022 von Gewalt im häuslichen Umfeld betroffen, davon 71,1 Prozent Frauen (Quelle: BKA 2023). Wie tief dieser Eisberg ist, bleibt unklar, da die Statistik nur angezeigte Gewalttaten erfasst. Fest steht, dass Frauen aufgrund ihres Geschlechts häufiger durch Partnerschaftsgewalt und sexuellen Missbrauch traumatisiert werden als Männer.
Die Symptome von Traumafolgestörungen werden von Betroffenen im Sinne einer Selbstmedikation sehr häufig mit Alkohol, Medikamenten oder anderen Substanzen mit Suchtpotential reguliert. Um den Betroffenen andere Perspektiven aufzuzeigen und damit ein suchtmittelfreies Leben zu ermöglichen, gibt es frauenspezifische Angebote in Hamburg wie die Beratungsstelle Frauenperspektiven für erwachsene Frauen und Kajal-Frauenperspektiven für junge Frauen und Mädchen. Sie bieten Frauen mit Suchtmittelkonsum und Gewalterfahrungen einen wichtigen Schutzraum.
Wie wichtig frauenspezifische Angebote sind, zeigen auch die Zahlen der Hamburger Basisdatendokumentation (BADO), einem Monitoringsystem der Hamburger Sucht- und Drogenhilfe in Kooperation mit der Sozialbehörde. Der BADO-Statusbericht 2021 fokussiert auf psychische Belastungen in der Suchthilfe. Hier zeigen sich deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede, wobei weibliche Abhängigkeitserkrankte stärker belastet sind: Bei Betreuungsbeginn in der Beratungsstelle Frauenperspektiven leiden 81 Prozent der Klientinnen unter erheblichen oder extremen psychischen Belastungen und damit fast doppelt so viele wie in der Gesamtgruppe der Personen im Suchthilfesystem, da sind es 47 Prozent.
Diese Belastungen gehen häufig mit mehreren komorbiden Störungen einher, die auch in der Beratung und den anschließenden Maßnahmen der Suchthilfe ein Mehr an Zeit, Vertrauen und Unterstützung erfordern. „Doch genau diese Unterstützung konnte Frauenperspektiven aufgrund der unpassenden Rahmenbedingungen nicht mehr uneingeschränkt gewährleisten“, so Antje Homann Fachliche Leitung der Ambulanten Therapie von Frauenperspektiven. Aus diesem Grund habe sich das Team entschlossen, die Ambulante Rehabilitation zum 31.12.2023 zu schließen.
„Wir sind sehr traurig über diesen Schritt und haben im Team lange darüber diskutiert, ob wir ihn verhindern können. Letztlich sind wir aber zu dem Schluss gekommen, dass wir unter den gegebenen Rahmenbedingungen kein fachlich sauberes Angebot mehr gewährleisten können. Die kompetente Betreuung der Klientinnen, aber auch die Gesundheit unserer Mitarbeiterinnen haben Vorrang“, erklärt Homann.
Die bestehenden Rahmenbedingungen, die Homann anspricht, werden von den Zuwendungsgebern und Leistungsträgern bestimmt. Hier wird es kurz kompliziert: Ambulante Rehabilitation ist eine therapeutische Maßnahme. Therapeutische Maßnahmen werden grundsätzlich von der Rentenversicherung oder den Krankenkassen finanziert. Darüber hinaus beteiligt sich die Hamburger Sozialbehörde im Rahmen einer Sockelfinanzierung. Damit das Angebot förderfähig ist, müssen Rahmenbedingungen erfüllt sein. Diese Rahmenbedingungen wurden zwischen den Leistungsträgern und den Trägern der Suchthilfe verhandelt. Demnach müssen zum Beispiel im Rahmen der
ambulanten Rehabilitation wöchentlich gruppentherapeutische Gespräche und ergänzend dazu alle zwei Wochen ein Einzelgespräch stattfinden. Die Gruppentherapie wird i.d.R. von einer Therapeutin durchgeführt, so sehen es die finanziellen Rahmenbedingungen vor.
„Diese Rahmenbedingungen gelten für alle Träger, die in der ambulanten Suchtreha aktiv sind. Doch eine spezifische Zielgruppe, wie die der traumatisierten Frauen, braucht auch spezifische Angebote“, erklärt Susanne Herschelmann, Leiterin von Kajal-Frauenperspektiven.
„Traumatisierte Menschen weisen andere Symptome auf“, erklärt Herschelmann weiter, „die Psychotherapeut*innenkammer hat eine klare Empfehlung ausgesprochen, dass Gruppen, an denen auch traumatisierte Menschen teilnehmen, von mindestens zwei Therapeut*innen geleitet werden sollen“. Das liege einerseits an dissoziativen Symptomen einzelner Teilnehmer*innen, die auch mal spontan den Übergang aus der Gruppe in ein Einzelgespräch erfordern, andererseits wolle man mit dieser Empfehlung auch die eigenen Mitarbeiter*innen schützen. „Wir haben eine klare feministische Ausrichtung in unserer Arbeit. Das bedeutet für uns auch, der Selbstausbeutung von Therapeut*innen entgegenzuwirken“, ergänzt Nadja Borlinghaus, Leitung der Suchtberatung Frauenperspektiven.
Es ist also wichtig, auch in Hamburg Rahmenbedingungen für therapeutische Maßnahmen zu schaffen, die auf die Bedürfnisse traumatisierter Frauen abgestimmt sind. In anderen Regionen stehen zwar einzelne stationäre frauenspezifische Angebote in Einrichtungen zur Verfügung, doch am Ende bleibt das ernüchternde Fazit: Traumatisierte Frauen sind doppelt diskriminiert. Zum einen sind sie aufgrund ihres Geschlechts deutlich stärker von Gewalterfahrungen bedroht, zum anderen werden ihre Bedürfnisse im Suchthilfesystem in Norddeutschland nicht ausreichend berücksichtigt. Angesichts der nach wie vor hohen Zahlen patriarchaler Gewalt ein fatales Signal.
Bei weiterführenden Fragen wenden Sie sich gerne an:
Nadja Borlinghaus, Leitung der Suchtberatung Frauenperspektiven: nadja.borlinghaus@frauenperspektiven.de
Sarah Kessler, Geschäftsführung der Hamburgischen Landesstelle für Suchtfragen: sarah.kessler@landesstelle-hamburg.de